Freitag, 21. Juni 2019

Geschichten aus meiner Kindheit

Auf dem Land

 

Der Zweite Weltkrieg war noch nicht zu Ende; wir waren zweimal ausgebombt worden und immer wieder umgezogen. Meine Mutter und mein Vater, der noch im Krieg war, hatten mit uns drei Kindern eine winzige Zweizimmerwohnung auf einem kleinen Dorf, wo wir einquartiert waren.

Es gab dort eine kleine Dorfschule, deren vier Klassen in einem einzigen Schulraum von einer Lehrerin gleichzeitig unterrichtet wurden, dann eine Kirche und einen Dorfbrunnen. Und dann gab es natürlich ein Rathaus und einen Bürgermeister, der als einziger im Dorf ein Klavier besaß.

Eines Tages schickte mich meine Mutter zu ihm und sagte: "Geh hinauf, Du darfst bei ihm auf dem Klavier spielen."
Der Sohn des Bürgermeisters kam und zeigte mir eine halbe Tonleiter für die rechte Hand.
Mit den Worten "Das kannst Du jetzt spielen" verschwand er für zwei Stunden.
Als er zurückkam, spielte ich immer noch die ersten fünf Töne der Tonleiter und war in Tränen aufgelöst.

Schließlich kehrte mein Vater aus dem Krieg zurück; ich bekam Klavierunterricht und er ein Behandlunszimmer mit einer Tretbohrmaschine und behandelte dort als Zahnarzt das halbe Dorf.


Die Aufnahmeprüfung


Dann zogen meine Eltern, als ich gerade neun wurde, in eine Kleinstadt um, wo mein Vater sich als Zahnarzt niederlassen wollte.

Um eine doppelte Umschulung in einem Jahr zu vermeiden (Grundschule und dann noch Gymnasium), beschlossen meine Eltern, mich gleich auf das Gymnasium zu schicken, zumal die Lehrerin mir ins Zeugnis geschrieben hatte, dass ich eine nie versagende Schülerin sei. 
Meine Eltern ließen mich probeweise die Aufnahmeprüfung in einer Nachbarstadt machen, wo aus unerfindlichen Gründen die Aufnahmeprüfung früher stattfand als üblich. Sie wollten sehen, was verlangt wird, um mich noch ein bisschen auf die Prüfung am Gymnasium in unserer zukünftigen Kleinstadt vorzubereiten.

Der Prüfungstag in der Nachbarstadt kam. Als Rechenaufgabe sollte man herausfinden, wie lange ein Zug braucht, der z.B. um 13.20 Uhr an einem Ort abfährt und um 14.35 Uhr woanders ankommt.
Ich war ratlos und schrieb nichts hin: Unsere Küchenuhr ging ja nur bis 12. 
Für die restliche Zeit rutschte ich auf meinem Stuhl herum.

In Deutsch sollte man eine Geschichte von jemandem nacherzählen, der das Paradies in Paris suchte oder irgend so etwas. Aber ich kannte den Unterschied zwischen Paradies und Paris nicht. Und so fiel ich natürlich mit Pauken und Trompeten durch. Mir fehlte nicht nur ein ganzes Schuljahr, sondern durch die Kriegswirren noch vieles andere mehr.

Auf dem Dorf gab es außer der Schule nichts für uns Kinder, was unseren Horizont erweitert hätte. Es gab kein Radio, keinen Fernseher, keine Bücherei. Wir gingen baden, trieben kaputte Fahrradreifen durch die einzige Dorfstraße oder bauten Lehmautos, die wir an einer Schnur herumzogen. Bücher gab es keine. Das einzige Kinderbuch, das wir hatten, tauschte meine Mutter gegen Speck ein. Unsere Spielsachen waren den Bomben zum Opfer gefallen. Nur einen kleinen Puppenwagen aus Korbgeflecht hatte ich. In dem zog ich meinen Bären herum. Das war´s.
Wir wussten nur, was wir in der Schule hörten. Der Vater war im Krieg und die Mutter hatte alle Hände voll zu tun, uns satt zu kriegen.

Meine Oma, die Volksschullehrerin und sehr erfahren war, wurde von weit hergerufen, um mir den nötigsten Stoff in drei Wochen beizubringen, bis an dem anderen Gymnasium, wo ich hinkommen sollte, die Aufnahmeprüfung stattfand. Ich bestand sie dieses Mal. Mit knapper Not. Dann zogen wir um und das neue Schuljahr begann.


Das Gymnasium


Ich hatte kaum meinen neunten Geburtstag gefeiert - und mir fehlten fast zwei Jahre -, schon stand ich im Schulhof des neuen Gymnasiums. 

Es war der erste Schultag. 
Der Direktor befand sich auf der Freitreppe zum Hof und teilte die Schüler in die evangelische und die katholische Gruppe für den Religionsunterricht ein. Die Kinder stoben nach links und rechts auseinander und übrig, in der Mitte, blieb ich ganz alleine auf dem großen Schulhof stehen. Ich wusste nicht, ob ich katholisch oder evangelisch war.
Ja, was hatte man ihm denn da geschickt!
Der Direktor kam die Treppe zu mir herunter und fragte freundlich: "Bist du evangelisch oder katholisch?"
Ich antwortete schüchtern: "Ich weiß es nicht."
Der Schulleiter sagte erstaunt: "Du musst doch wissen, ob du evangelisch oder katholisch bist."
Ich schüttelte den Kopf.
Da sagte der freundliche Mann: "In welche Kirche bist du denn gegangen?"
Ich antwortete ganz leise: "In die Dorfkirche" und der Direktor schaute mich einen Augenblick ratlos an. Dann hatte er eine gute Idee und sagte: "Wie betest du denn das ´Vater unser´?"
Ich faltete brav die Hände nach Luthers Art und wollte gerade mit dem ´Vater unser´ beginnen, als er nach einem kurzen Blcik auf meine gefalteten Hände sagte: "Evangelisch, links", und ich lief nach links zur evangelischen Gruppe, erleichtert, dass keine weiteren Fragen kamen.
Es fehlte mir einfach an allem.

Nachdem die Einteilung in die Religionsklassen auf dem Schulhof beendet war und wir in den Klassenzimmern saßen, kam auch schon bald die erste Englischstunde. Die Englischlehrerin saß fett auf dem Pult vor mir und diktierte uns: "Im Englischen trägt die Nennform ... Schreib!", rief die Lehrerin mir zu. "Schreib! ... Im Englischen trägt die Nennform immer ´to´."
Alle schrieben eifrig diesen Satz in ihr Heft, nur ich nicht. Ich saß ratlos mit großen Augen da und überlegte, was wohl eine Nennform war und auch noch das ´Du´oder ´tu´oder ´to´- oder  hatte ich falsch gehört?

Auf dem Heimweg kam ich an der Kirche vorbei, die mit einem kleinen Rasen und Lattenzaun umgeben war. Beim Gehen schlug ich mit der Rückseite der rechten Hand frustriert gegen jede Latte des Zaunes und dachte: Englisch lern ich so nie. Das muss ich anders machen. In England müsste es doch auch ein Alphabet geben. Das besorge ich mir und übersetze dann Buchstabe für Buchstabe alle Wörter in die andere Sprache.

Zuhause fragte meine Mutter, wie es gewesen sei, und ich sagte ihr, dass ich nichts verstanden hätte und so Englisch nie lernen würde. Von meiner Erfindung, Englisch zu lernen, hielt sie nichts.

Nach zweijähriger Quälerei in Mathe und Englisch hatte ein Lehrer Mitleid mit mir und sorgte dafür, dass ich durchfiel, da ich einfach zu jung war. Er sei gesegnet. Von da an hatte ich nur noch gute Noten bis zum Abitur und bin diesem Lehrer heute noch dankbar. Das "nie versagen" in meinem Grundschulzeugnis hatte eben doch Bedingungen und Grenzen. Außerdem lernte ich in der Klasse, die ich wiederholte, eine Freundin kennen, mit der ich noch heute, nach 65 Jahren, in Verbindung stehe und deren Familie mich sehr geprägt hat.

Der einzige Unterricht, der mir wirklich gefiel, als ich den Übertritt ins Gymnasium geschafft hatte, war Religion. Als mich meine Mutter nach meinem Lieblingsfach fragte, sagte ich "Religion". Und nach dem Grund für diese Vorliebe gefragt, gab ich an: "Der Priester niest so leise."

Als die Konfirmation kam, brauchten wir einen Katechismus zum Lernen. Meine Mutter meinte: "Für sowas geb´ ich kein Geld aus." Wir hatten zu der Zeit auch wirklich kaum Geld.
Was sollte ich tun?
Gott hatte Erbarmen mit mir, denn ich fand genau diesen Katechismus auf der Straße. Der Haken an der Sache war nur, dass der Name der Besitzerin im Buch stand. Sie hieß Antje, ging ins Gymnasium und war etwas älter als ich. Sicher brauchte sie jetzt den Katechismus nicht mehr, aber ich hatte trotzdem ein sehr schlechtes Gewissen, als ich ihren Namen einfach überklebte und das Buch aus Verzweiflung behielt ... und lernte aus dem unrechtmäßig behaltenen Buch die zehn Gebote ... du sollst nicht stehlen ...! Mit einem so  schlechten Gewissen, dass ich das noch heute fühle.
Verzeih´ mir, liebe Antje, wenn es Dich überhaupt noch auf dieser Erde nach so langer Zeit gibt.


Der Hochzeitsring


Dann ist da noch so eine Geschichte. Sie geschah, als ich vier oder fünf Jahre alt war.

Eine gute Bekannte meiner Eltern heiratete, und ich durfte die Brautjungfer sein. Ich trug die zwei Goldringe auf einem kleinen Herzen aus rotem Samt zum Altar hinauf. Plötzlich kullerte einer der beiden Ringe davon und die ganzen Stufen hinunter. Zu meinem großen Erstaunen bückte sich ein ganz vornehm in Schwarz gekleideter Herr. Meine Mutter hatte mir nämlich beigebracht, dass die Kleinen sich bücken müssen, wenn etwas hinunterfällt, weil sie näher am Boden sind als die Großen.
Die Braut erschrak fürchterlich, als sie den Ringe davonrollen sah und nahm das als ganz schlechtes Omen. Wenig später fiel ihr Mann im Krieg, und sie erzählte meiner Mutter, sie hätte das Unglück schon damals geahnt.


Ein Lichterlebnis


Wir wohnten am Ende eines kleinen Dorfes und meine Mutter schickte mich zum Spielen hinunter. Meine älteren Brüder waren auch irgendwo unten. Dicht am Haus schloss ein winziges Wäldchen an mit einem Sandweg. Als ich den Sandweg betrat, leuchtete er in dem Wäldchen in einem überirdisch schönen, hell strahlenden Licht, wie ich das noch nie gesehen hatte. Dann verschwand das Licht, und alles war wie sonst.

Immer wieder ging ich danach an die Stelle und suchte dieses Licht. Aber es kam nie mehr.


So viel Gott


Einmal, als meine Eltern über Nacht weg waren, erlaubte ein Pfarrer, der selber viele Kinder hatte und meine Familie gut kannte, dass ich in seinem Büro übernachten durfte. Meine Seligkeit kann ich niemandem beschreiben, von ´soviel Gott´ und heller Schwingung umgeben zu sein. Der ganze Raum und alle Dinge darin strahlten für mich göttliche Energie ab und versetzten mein hochsensibles und empfängliches Gemüt in ein sprachloses Glück.
Ich muss hinzufügen, dass ich sehr ordentliche und tüchtige Eltern hatte, die sehr um die Erziehung der Kinder bemüht waren, aber das Thema Gott gab es einfach nicht.
Unseren kleinen Hund hatte ich auch mitnehmen dürfen, und ich vergnügte mich damit, mich auf den Boden zu ducken und die Apfelstücke in die Luft zu werfen und mit dem Hund um die Wette mit dem Mund das Apfelstück zu schnappen, bis er mich aus Versehen dabei in die Lippe biss, ohne es zu wollen. 

Bei meiner Taufe, so erzählte mir später meine Mutter, muss etwas geschehen sein, was den Pfarrer zu der Bemerkung veranlasste: "Dieses Kind wird einmal sehr spirituell werden." Was das war, wusste meine Mutter nicht mehr oder wollte sich nicht erinnern. Es war nicht ihre Welt. 

Sonst weiß ich von keinen solchen oder ähnlichen Erlebnissen aus der Kindheit. Meine mystische und hellfühlige Veranlagung ist langsam und stetig gewachsen und dann durch eine Reihe von Schocks sprunghaft angestiegen. Vorher waren transzendentale Erfahrungen eher vereinzelt.


Bei einer Heilerin


Viel später, ich war schon über 70, ging ich zu einer Frau, die Heilseminare anbot. Ich hatte spirituelle Geschichten geschrieben und wollte ihr etwas davon schenken. Zum Dank bot sie mir eine Heilübertragung an.

Kaum, dass ich auf der Matte lag und sie anfing, fiel ich in meine frühe Kindheit zurück, als ich etwa drei oder vier Jahre alt war. Meine Mutter und ich hatten gerade Streit, und sie fasste meine Hände und ließ sie nicht mehr los, um meinen Willen zu brechen, wie das damals die Psychologie riet. Ich war psychisch am Ende, als Jesus erschien, zwischen uns trat und sprach: "Dieses Kind ist geschützt." Er löste den Griff und meine Mutter ließ ab. Sie war nicht einverstanden. Ich selbst spielte inzwischen friedlich hinter Jesu Rücken.

Diesen göttlichen Schutz habe ich später unzählige Male in meinem Leben erfahren.


Befiehl dem Herrn deine Wege
Und hoffe auf Ihn.
Er wird´s wohl machen.

 

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